Früher mal

Wenn ich aus meinem Schlafzimmer schaue, blicke ich auf ein leerstehendes, verfallenes Haus.
Als ich noch in die Grundschule ging, wohnte dort eine kurdische Familie. Einer der Söhne ging in meine Klasse. Ferdi.
Ferdi war ein aufgeweckter, beliebter, niedlicher, kameradschaftlicher Junge. Einmal brach er sich beim Sport das Bein als er nach einem Sprung über einen Kasten nicht auf der Matte landete, sondern an dem Kasten hängen blieb. Das war im Sommer.
Ich brachte ihm jeden Tag die Hausaufgaben. Immer nach dem Mittagessen um halb eins.
Bei Ferdis Familie herrschte immer eine heimelige, angenehme Atmosphäre. Ich war immer gern dort.

Irgendwann zog die Familie weg. Seitdem wohnten in dem Haus nur noch gescheiterte Existenzen. Inzwischen steht das Haus seit Jahren leer. Nie wieder erlangte es den Glanz, den es ausstrahlte als Ferdis Familie noch dort wohnte.

Vor ein paar Jahren traf ich Ferdi zufällig wieder. Wir hatten uns über zehn Jahre nicht gesehen und doch auf Anhieb wiedererkannt. Aus dem aufgeweckten Jungen, der alle Chancen dieser Welt hatte, war ein krimineller Erwachsener mit stechendem Blick geworden. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Diebstahl und Hehlerei. Durch ihn besuchte ich die erste und einzige Türkenhochzeit meines Lebens, die seines Bruders. Tausend Gäste, Hähnchen essen, anatolische Livemusik und Brautbehängung. Es war eine wunderbare Feier.

Inzwischen ist er selbst verheiratet und wohnt irgendwo in NRW. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

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